MOZ, Nummer 42
Juni
1989

Ganz andere Wunderwerke als gotische Dome und ägyptische Pyramiden

Zur Diskussion über alternative Öffentlichkeit, deren Wandlung sowie Finanzierung trafen einander in der MOZ-Redaktion:
Hermann L. Gremliza, Herausgeber des BRD-Monatsmagazins konkret.
Günther Nenning, Publizist.
Karl Heinz Stamm, Publizist, Mitarbeiter der Berliner tageszeitung.
Franz Ferdinand Wolf, Publizist der Wiener Tageszeitung Kurier.
Eingeladen hatte Karl Lind.

(v.l.n.r.) Günther Nenning, Hermann L. Gremliza, Franz Ferdinand Wolf, Karl Heinz Stamm

Lind: Vor nicht allzulanger Zeit war die Parole „Schafft Springer ab!“ angesagt. Heute, etwas später, wird ein Springer-Produkt in Österreich — von links bis rechts — als Bereicherung des Medienmarktes im Zeichen des Pluralismus willkommen geheißen. Ist Springers Kapital, gegossen in die Form des Standard, zur emanzipatorischen Kraft avanciert, zur „alternativen Öffehtlichkeit“, oder herrscht einfach die Resignation vor dem Tatsächlichen? Wodurch wurde das „Neue Denken“ in die Köpfe der Menschen gebracht?

Stamm: Wir in der BRD haben ja nicht die Situation, daß das liberale Kapital so weit verstreut ist, daß man da jederzeit darüber verfügen kann. Dany Cohn-Bendit ist für seinen Pflasterstrand händeringend in der Gegend rumgerannt, um liberales Kapital aufzutreiben dafür, daß er seine Zeitschrift aufbauen konnte, um sie ein Stückchen weit über Frankfurt hinaus publik zu machen. Das hat Jahre gedauert, bis ihm das gelungen ist. Was für die BRD eher typisch ist, ist die Entwicklung der taz, die ein Stück Gegenöffentlichkeit oder Gegenmacht aufgebaut hat in dem Sinne, daß sie nach zehn Jahren ein Gebäude gegenüber von Springer gekauft hat. Da hat man ein eigenes Produkt geschaffen, das in der Lage ist, auf dem gleichen Terrain wie Springer zu operieren, ohne auf den Kapitalmarkt zu gehen.

Wolf: Medien brauchen Öffentlichkeit. Ohne Öffentlichkeit sind Medien nicht nur ein unvollkommenes, sondern ein sinnloses Ding. Ich rätsle über den Begriff der „alternativen Öffentlichkeit“, was ist das? Was ist die Gegenöffentlichkeit, was ist Gegenmacht, was sind diese Begriffe? Ist es nicht so, daß über weite Strecken die Vermarktung der Gegenöffentlichkeit genau nach den Kriterien funktioniert, nach denen die Gegen-Gegenöffentlichkeit, also die vorhandene Öffentlichkeit, auch funktioniert?

Prinzipiell gibt es bei Medien zwei eherne Grundregeln: Sie brauchen Öffentlichkeit und sie funktionieren nach Kritierien der Marktwirtschaft, des Kapitalismus. Man kann es wienerisch sagen: Ohne Geld keine Medienmusik. Die Frage reduziert sich daher letztlich auf folgendes: woher kommt das Geld, wer finanziert die alternative Öffentlichkeit, wer finanziert die Gegen-Macht? Und gibt es diese Gegen-Öffentlichkeit? Wie kommt man an die heran? Macht es Sinn, mit ungemein viel Geld, ungemein viel Einsatz, die möglicherweise nicht einer breiten Öffentlichkeit klar und transparent zu machenden Positionen darzustellen?

Gremliza: Ich kann mit dem Begriff „Gegenöffentlichkeit“, auch wenn er manchmal im konkret vorkommt, freilich nicht von mir geschrieben, oder „alternativer Öffentlichkeit“ auch nicht richtig was anfangen. Ich glaube nicht, daß der Erfolg der taz‚ den du vorhin beschrieben hast, ein Erfolg von Gegenöffentlichkeit ist, sondern ein Erfolg im klassisch bürgerlichen Mediensinne, daß diese Zeitung sich einen Markt und eine finanzkräftige Sponsorenschaft geschaffen hat, die es ihr ermöglicht, nun in ein Haus zu ziehen, das tatsächlich irgendwo schräg gegenüber des Springer-Hauses liegt. Kein Erfolg von Gegenöffentlichkeit, sondern einfach am linken Rand der bürgerlichen Presselandschaft etabliert. Die Funktion hat früher, in den 60er Jahren der BRD, die Frankfurter Rundschau gehabt, auch etwa mit der gleichen Verbreitung über Frankfurt hinaus, als sie ein Lokalblatt war wie jetzt die taz. Ich habe auch den Eindruck, daß, was die BRD angeht — und vielleicht gilt das für Österreich auch —‚ daß man sagen kann: So wenig sich politisch verändert hat, in den tatsächlichen politischen Strukturen, auch in den Herrschaftsstrukturen, so wenig hat sich die Aufteilung der Medienlandschaft geändert. An der Zeitschrift, die ich seit fünfzehn Jahren herausgebe, die aber seit mehr als dreißig Jahren existiert, läßt sich ablesen, daß auch der Kreis derer, die sich für eine Zeitschrift dieser Art politisch interessieren und sie kaufen, in etwa seit 30 Jahren so stabil geblieben ist, wie die Gesellschaft stabil geblieben ist. Was einen manchmal denken läßt, es hätte sich schrecklich viel verändert, sind solche Vorkommnisse wie dieses, daß ein ehemaliger Bundesvorsitzender der Jungen Demokraten, der vor zwanzig Jahren mit einer „Enteignet Springer“-Plakette herumgelaufen ist, vor vier Wochen Sprecher des Vorstandes des Axel Springer-Verlages geworden ist. Das ist der normale bürgerliche Korruptionsfall und signalisiert nicht strukturelle Veränderungen in diesem Bereich.

Lind: Eine recht stattliche Menge an normalen bürgerlichen Korruptionsfällen, nicht an strukturelle Veränderungen gebunden, meinst du das wirklich so? Hier in Österreich arbeiten viele von damals, die z.B. den Falter gegründet haben, in der Redaktion des Financiers, über dessen Politik sie damals die Notwendigkeit ihres „Gegenmediums“ definiert hatten. Sind das alles einzelne normale bürgerliche Korruptionsfälle ohne Änderung des Rundherum?

Stamm: Ich denke schon, daß sich da einiges geändert hat, ich bin da überhaupt nicht so pessimistisch wie du, Hermann ...

Gremliza: Optimistisch!

Karl Heinz Stamm

Stamm: Es hat in der BRD eine ganz breite Bewegung gegeben von alternativen Zeitungen und Medien von unten, das läßt sich nicht wegdiskutieren. Diese Bewegung, die erreicht klarerweise nur einen minimalen Bruchteil der Menschen, die die etablierten Medien kriegen, ist also „einflußloser“. Sie hat aber zu Veränderungen geführt in den etablierten Medien selber. Da hat die bürgerliche Presse eindeutig Impulse aus dieser Richtung gekriegt. Das Problem der alternativen Zeitungen ist heute, daß die meisten Produkte zu Hochglanzmagazinen verkommen sind, die völlig den Marktmechanismen entsprechen.

Ich denke auch, daß eine Veränderung im politischen Diskussionsklima stattgefunden hat. Bestimmte politische Themen, die vorher nur in der Parteienlandschaft oder auf der Ebene des politischen Journalismus rezipiert wurden, werden jetzt viel breiter diskutiert. Zum Beispiel die Raketennachrüstung, die auf Grund der Friedensbewegung, die ja recht rege war, heute mehr Öffentlichkeit hat. Und noch mal zur taz, wo man auch erkennen kann, daß sich was verändert hat. In einer Situation, wo sich die etablierte Publizistik über den Rückgang der selbständigen Einheiten am Tageszeitungsmarkt beklagt, gelingt es einer linken Tageszeitung als einer von fünf Neugründungen, sich am Markt zu halten. Da hat sich doch einiges verändert.

Lind: Du, Karl-Heinz, erzählst von der sensibleren bürgerlichen Presse, die flexibler auf Bewegung reagieren kann, die Lehren, gezogen aus der Studentenrevolte und den Erfahrungen der 70er Jahre. Wie aber siehst du die gesellschaftspolitische Veränderung als Rahmenbedingung für so eine Entwicklung?

Stamm: Na, das sind im Grunde doch ihre ureigensten Funktionen. Sie sind angestoßen worden, die wieder wahrzunehmen. Das hat sich im politischen Diskussionsklima niedergeschlagen.

Gremliza: Ja, und worin hat sich das ändert? Worin hat sich das politische Diskussionsklima seit 68 geändert? Ich sehe das nicht. Ich erinnere mich an Fernsehdiskussinen, Dispute, Spiegel-Gespräche‚ genau in dem Klima, ja vielleicht noch ein bißchen ernsthafter, als so was heute stattfindet. Was sich entwickelt hat, hat sich eher negativ entwickelt, hinein in die Beliebigkeit. In die Talk-Shows, in denen jeder aus jeder Ecke seinen unterhaltsamen provokativen Satz sagen darf. Alles lacht, man freut sich, wenn zwei aufeinander losgehen, und als Resümee am nächsten Tag bleibt im Kopf — auch des politisch interessierten Beobachters — der Eindruck: der war eigentlich ganz gut, der hat es dem aber gegeben, politische Inhalte werden aber in solchen Veranstaltungen überhaupt nicht bearbeitet, können auch in der Art gar nicht. Und ich denke, daß diesen Talk-Show-Charakter auch so eine Zeitung wie die taz mitbestimmt. Die Veranstaltung von interessanten Konfrontationen. Von wuzzellosem Klamauk. Die Vorführung von Langhans durch den Kulturredakteur der taz auf zwei Seiten, wo er erzählen durfte, warum wir Hitler wieder entdecken müssen, ihn verbessern und weiterführen. Das gebe ich tatsächlich zu, das wäre im Spiegel nicht möglich, auch nicht im Stern oder der FAZ. Und das beruhigt mich, daß das dort nicht möglich wäre.

Also, was hat sich verändert? Außer, daß die taz die Funktion hat, das ausgelagerte Voluntariat der Bürgerpresse zu sein. Das gilt für viele dieser Zeitschriften, und deswegen werden jene auch, die wirklich solche Qualitäten haben, toleriert und „gefeatured“. Der Aspekt gilt generell und könnte das Phänomen erklären, das vom Falter beschrieben worden ist. Früher mußten sie die Leute direkt reinnehmen, da haben sie sich auch Leute miteingekauft, die sie eigentlich nicht haben wollten. Jetzt holen sie sich die, die schön stromlinienförmig reinpassen.

Wolf: Die Beispiele wie Falter und so haben im stringenten und engen Sinn mit Gegenöffentlichkeit, die versucht, sektencharakterartig Dinge zu problematisieren und unterdrückte Nachrichten zu publizieren, nicht das geringste zu tun. Da wirken ganz normale Vermarktungsmechanismen, wo eher der Kampf um Marktanteile geführt wird auf einer Ebene, die segmentiert ist. Das ist eine völlig kalte und überprüfbare Strategie, Marktsegment, Eroberung, Zufriedenstellung etc. Sie gehorchen ja auch den Mechanismen der sogenannten etablierten Presse. Das hat mit Gegenöffentlichkeit nichts zu tun.

Franz Ferdinand Wolf

Zur Änderung des Diskussionsklimas: Man kann das nicht so mechanisch — hier das, dort das — sehen. Die politische Kultur, die Medienkultur, entwickelt sich naturgemäß weiter, und zwischen Back-Clash und Fortschritt entsteht eine Synthese, da gibt es Phasen, wo Studenten auf der Straße stehen, um zu sagen: schafft Springer ab. Zwanzig Jahre später schafft Springer für eben die an, oder die schaffen bei Springer an. Und dann gibt es Phasen, und in so einer sind wir doch offenbar, wo ein Diskussionsklima vorhanden ist, in dem existentielle Probleme wie die Nachrüstung diskutiert werden.

Nur einen Fehler sollte man nicht machen: Man sollte nicht glauben, daß diese Probleme der Kopfarbeiter, diese Probleme, die wir Journalisten, wir Medienmacher haben, die die Politik und der Verbund zwischen Medien und Politik hat, daß das die Probleme sind, die wirklich in die Breite hineingehen. Das sind intellektuelle oder Oberschichtenphänomene, und die Medienrealität gibt mir recht. Eine völlig klar beschreibbare Zielgruppe von sechs bis zehn Prozent der Erwachsenen beschäftigt sich mit diesen Phänomenen und Problemen. Der große Rest konsumiert andere Medien und hat eine andere Bewußtseinssituation.

Nur eine relativ kleine Zahl von Personen ist bereit, solche Diskussionen zu führen, die große und überwiegende Zahl der Medienkonsumenten funktioniert auf einer Völlig anderen Ebene. Daher behaupte ich, daß das, was hier als Gegenöffentlichkeit diskutiert wird, nichts anderes als eine Marktstrategie für die zehn Prozent ist und daß die etablierten Medienmacher die Marktstrategie für die 90 Prozent machen.

Gremliza: Das kann ich akzeptieren, aber es fehlt was dran. Mit den zehn und 90 Prozent kann das auch etwa hinkommen. Aber es ist nicht so, daß die 90 Prozent sich für die Themen nicht interessieren.

Hermann L. Gremliza

Ich möchte jetzt mal die Yellow-press außen vorlassen und nehme mal die politisch informierende Presse, die von den 90 Prozent sowieso nicht wahrgenommen wird, sondern vielleicht von 30-35 Prozent. Die Auflage des Spiegel ist wesentlich geringer als die der Yellow-press-Organe, deren Namen kein Mensch weiß. Die zehn Prozent, das sind politisch Oppositionelle im unterschiedlichen Grad der Schärfe gegenüber Grundlagen des gesellschaftlichen und politischen Systems. Da halte ich zehn Prozent für zu hoch; gegenüber dem System Radikaloppositionelle gibt es vielleicht zwei Prozent, und dann so eine gleitende Skala bis hin zu zehn als das, was sich politisch artikuliert. Auf die bezogen muß man sich die Medien angucken und sehen, welche Funktion sie erfüllen. Und sie erfüllen, egal, wie radikal ihr Ausgangspunkt ist, eine Integrationsfunktion für ihre Leser, ähnlich wie die Grünen, um sie heim ins System zu bringen.

Wenn vorhin davon geredet wurde, wie überall in den großen Städten alternative Stadtzeitungen gegründet worden sind, dann waren das alle auf Ökopapier und im Composersatzverfahren zu Hause gestrickte Zeitungen. Das hat sich weiterentwickelt, und heute sind wir ziemlich am Ende angekommen, wo aus rebellischen Blättern Glanzkackeorgane geworden sind, die zwischen dem Anzeigenverbund funktionieren. Einer der großen Zeitschriftenkonzerne, der Jahreszeiten-Verlag‚ plant jetzt, in verschiedenen Städten der BRD die bestehenden Zeitungen aufzukaufen, zum Redaktions- und Anzeigenverbund zentral zusammenzufassen. Im Ruhrgebiet hat er schon gekauft, das heißt Prinz, in Hamburg hat er sich als nächstes eingekauft, das heißt jetzt auch Prinz, das Ding soll in der ganzen BRD Prinz heißen. Vielleicht kriegt Cohn-Bendit auch noch ein Angebot. Dann steht das Ding, ein bunter Veranstaltungskalender, mit Mode, Schicki-Micki und allem drum und dran.

Die Macher sind zum großen Teil noch dieselben, weil die einen erstaunlichen sozialen Aufstieg genommen haben. Das Zeug geht hervorragend, ist für die Anzeigenwirtschaft ideal, die kommen da an eine Käuferschicht ran: der junge Aufstrebende. Alles mit zentraler Schaltung an allen Schwerpunkten, ohne Streuverluste auf dem flachen Land, wo das Zeug nicht hinkommt. Und viele der Leser und Redakteure sind mitreingezogen worden, womit nach vorübergehender Turbulenz die Normalität des Medienmarktes wiederhergestellt ist.

Wolf: Sie bestätigen, was ich gesagt habe.

Einfügung K.L.: An dieser Stelle tritt Nenning auf. Fester Überzeugung, nicht er komme zu spät, sondern wir hätten zu früh angefangen.

Gremliza: Ich würde gerne noch etwas anhängen. Alternative Öffentlichkeit — das weiß ich auch nicht, was das ist. Die Frage, die mich beschäftigt, ist, ob es möglich bleibt, für die zwei Prozent von vorher eine Publikation zu machen, die deren Widerstand aufnehmen kann. Und welche Art von alternativen Finanzierungsmechanismen muß man haben, um das über eine längere Zeit durchzuhalten.

Das heißt: Wer bezahlt die Musik, die man da macht. Denn daß die sich im Normalfall nicht selbst bezahlt und daß die Selbstausbeutung eine Zeit lang gehen mag, nicht aber auf Dauer funktioniert, ist erkennbar. Also muß jemand als Sponsor auftreten, bei der taz der Freundeskreis‚ der über erhebliche Summen verfügt. Da gibt es Söhne und Töchter von Leuten, die Großes zu vererben haben oder schon vererbt haben, die ihr Geld reinstecken. Abschreibungen, Berlinförderung, nur deswegen ist die taz nach Berlin gegangen. Das ist das eigentliche Problem. Wie schafft man es, ein Publikationsorgan am Leben zu erhalten für die Leute, die in der Gesellschaft, der politischen Ordnung der Länder, aus denen wir kommen, prinzipielle Opposition bieten wollen. Das ist mein Problem, das muß nicht eures sein.

Nenning: Das klingt irrsinnig resignativ. Das versteh ich nicht. Selber finanzieren können wir uns nicht, Sponsoren brauchen wir, zwei Prozent, das ist sozusagen der Blinddarm der normalen Medienszene.

Gremliza: Anstatt was zu sein? Der Dickdarm?

Nenning: Du hast keine Definition von alternativer Öffentlichkeit, und daher kommt’s. Das ist ja schon der Bankrott, gelt. Wofür deine fünfzehn Jahre?

Wolf: Na komm, Günther, sag uns, wo ist die alternative Öffentlichkeit?

Günther Nenning

Nenning: Überall und nirgends. Die Vorstellung, das Alternative sei ein Ghetto und in diesem Ghetto sitzen die Reinen, die die wahre Lehre haben, und der Rest sind Depperte, die die normalen Medien lesen, die ist ein Rezept zum Mißerfolg. Die alternative Öffentlichkeit ist überall und nirgends, das heißt, die gibt’s bei den Lesern des FORVMs‚ der MOZ, bis hin zum Kurier und der Krone. Was soll denn das sein? Ideen haben doch keine ideologischen Etiketten am Hirn, sondern entweder verbreiten sie sich oder bleiben bei den zwei Prozent und müssen gesponsert werden, womit sie offenbar falsch sind. Was die alternativen Ideen betrifft, nämlich anders zu leben, anders zu wirtschaften, die sind nicht falsch, denn die alternative Öffentlichkeit, nach der du vergeblich suchst, die gibt es deswegen nicht, weil das alternative Denken schon überall drin ist. In den homöopathischen bis hin zu ordentlicheren Dosen. Ich kann doch nicht sagen: Hier sind die Medien und hier die alternativen Medien. Dann glaube ich ja an keinen historischen Prozeß, sondern ich glaube, ich könnte mich irgendwohin zurückziehen — und sind es nur zwei Prozent, na, sind wenigstens meine Leute und die anderen sind mir wurscht. Ich halte das für eine resignative und in der vorhandenen Situation ungerechtfertigte Vorstellung. Wir sind in einer Situation wie in den hundert Jahren vor der Französischen Revolution, wo all dieses Gedankengut, das einmal dazu führt, daß mit einem Knacks eine Änderung eintritt, sich überall hin verbreitet. Das ist faszinierend, und da setzt sich alternative Öffentlichkeit durch, mitten in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nicht nur am Rande.

Wolf: Es ist keine Frage, daß all das, was der Günther Nenning wortreich gesagt hat, daß es gesellschaftliche Prozesse der Veränderung, des Fortschritts und des Rückschritts gibt. Es ist ja nicht so, daß wir alle dauernd in eine lichte Zukunft marschieren und alles besser wird. Wenn ich dem Nenning zuhöre, sind wir ja schon fast so weit, daß die Alternativen die Mehrheit haben.

Stamm: Die taz ist ja jetzt schon Regierungsblatt.

Wolf: Daß da komplizierte Prozesse der gesellschaftlichen Willensbildung passieren, ist ja eine Binsenweisheit. Darüber braucht man gar nicht diskutieren. Nur: Das hat nichts mit alternativ oder nicht alternativ zu tun, sondern mit unheimlich vielen Gedanken und Ideen, Ansichten und Verhaltensweisen, die von Medien geprägt oder nicht geprägt werden. Wenn ich den Nenning anschau, dann zeigt seine journalistische Laufbahn und auch seine Vita sehr gut und präzise diese gesellschaftlichen Prozesse. Jetzt ist er bei der Hemma von Gurk, und er war auch schon einmal am anderen Ende. Kein Vorwurf, nichts anderes als die Meinung, daß ein gesellschaftlich sensibler intellektueller Denker in diesen dauernden Auseinandersetzungen mitschwimmt wie ein Fisch im Wasser. Daß heute die gesellschaftliche Wirklichkeit anders ist als vor zwanzig Jahren, wird niemand, der heilen Sinnes ist, bestreiten können. Das ist klar. Nur die Frage ist: Ist das Fortschritt oder nicht? Ich sage: Es ist nicht Fortschritt, es ist was anderes.

Gremliza: Das sind Begriffe, mit denen kann man über die nächsten sechs Jahrtausende auch kommen. Wir leben in einer Übergangszeit, und die Menschheit lebt, seit tausend Jahren, immer hundert Jahre vor einer Revolution. Was hier erklärungsbedürftig wäre, ist in der Tat, in welcher Weise die Gesellschaft und die in der Gesellschaft Herrschenden das, was durch tatsächliche Probleme wie Ökologie und atomare Rüstung an Widerstand entstanden ist, wie sie diesen so integriert, daß dabei eine Festigung der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen durch Modernisierung herauskommt. Das ist genau das, was die sogenannten fortschrittlichen Leute in der CDU, also Biedenkopf und Geißler, betreiben. Eine Form der gesellschaftlichen Machtverteilung auf einer modernen Stufe finden.

Wolf: Das ist Perestroika.

Gremliza: Ja, aber das ist noch komplizierter. Jedenfalls für die hiesigen Gesellschaften ist es in etwa so. Und dann die Überlegung: Was hat Presse, was haben Medien für eine Funktion in diesem Bereich. Und da haben sie eine dienende Funktion, soweit sie ja auch Kapitalgesellschaften sind, ist das klar.

Die Frage ist: Was haben diese sogenannten alternativen Medien für eine Rolle? Und die Beobachtung, die ich mache, ist die, daß sie die Aufgabe haben, Konfliktbereiche, die nicht rechtzeitig erkannt worden sind, abzudecken und langsam in das System einzumarkieren. Und dein Zwischenruf, daß die taz tatsächlich zum regierungsoffiziösen Organ der rosagrünen Berliner Koalitionsregierung geworden ist: Das beschreibt ja nicht den Vorgang, daß das, was die Ursache für die Gründung der taz war, jetzt in Berlin regiert, sondern umgekehrt. Die taz ist inzwischen so geworden, daß sie aalglatt sein kann, um Aktionen des Berliner Innensenators und seiner Polizei zu verteidigen.

Nenning: Ist ja ein Wahnsinn! Wer ist für, wer ist gegen die Polizei? Die Veränderung des Systems ist doch das einzige System der Veränderung! Ich kann doch nicht zuschau’n von außen und von dort eine Veränderung zusammenbringen. Das vollzieht sich doch alles drinnen. Und wenn sich das System auf eine Weise modernisiert, daß der Herr Riegler einen Nationalpark macht und der depperte Herr Graf ihn nicht gemacht hat, so ist mir diese Veränderung oder diese Modernisierung des Systems hochwillkommen. Denn ich weiß, was ich will, und ein Riesenhaufen von Leuten weiß es mit mir, im Bauch nämlich. Und das ist die Vorwärtsbewegung einer alternativen Öffentlichkeit und nicht, was ihr seit fünfzehn Jahren in eurem Käseblattl schreibt’s.

Wolf: Das Problem des Herrn Gremliza ist ja ein anderes. Er fragt, was er den zwei Prozent demokratischen totalen Systemverweigerern medial anbieten kann.

Nenning: Es ist sicher nützlich, daß es die gibt als einen Maßstab, wo man sagen kann: Haben wir verloren in diesem Veränderungsprozeß oder kommen wir vorwärts? Aber es ist nicht mehr als das Urmeter und also ein recht bescheidener Motor der Veränderung verglichen damit, daß sich mittendrin in der Gesellschaft die Leute geändert haben. Die Ismen, die der Totalverweigerer noch in sich hat, die sind natürlich nützlich als ein Maßstab. Aber die sind nicht der Veränderungsprozeß. Die sind das Stillstehende.

Wolf: Ich würde gern dein alternatives Urmeter mal umdrehen. Unreflektiert sagst du: Wenn das linksalternativ ist, ist das in Ordnung. Aber was machst du, wenn das am anderen Ende des Spektrums passiert? Mit den Rechten, sind die auch das Urmeter?

Nenning: Das kommt daher, daß ihr nicht wißt, was alternative Öffentlichkeit ist. Ich hätte angenommen, wenn ich sage: Urmeter, dann liefert mir der den Maßstab zu sagen: Der Schönhuber ist die alternative Öffentlichkeit nicht. Er ist vielleicht ein unbewußter Agent der Veränderung.

Wolf: Das ist ja alles sehr schön. Nur: Nicht die Umwegrentabilität des Herrn Schönhuber in Richtung Nationalismus habe ich gemeint. Sondern: Was machst du dann am rechten Rand mit den von Gremliza zitierten totalen Systemverweigerern? Wie gehst du denn da mit der alternativen Öffentlichkeit um? Was ist das für eine Meßgröße für dich?

Nenning: Schau, der Trick, den du machst, ist ganz einfach: Extrem ist extrem. Rede nicht rum: Was ist der Inhalt des Extremen? Sondern: Alles, was extrem ist, ist schlecht für den Kurier. Das kann man natürlich so sehen, aber eine inhaltliche Definition fegt das sofort weg. Ich bin für die gewaltlose, radikale, demokratische Veränderung, da ist mir ein alternativer Extremismus ja willkommen. Wenn du mich also fragst: Was ist mit den Rechtsextremen?, dann sage ich dir: Ich bin kein Extremer, sondern ich bin ein Alternativ-Extremer, daher bin ich gegen Rechtsextreme. Und das ist für mich aber auch eine MeßgröBe, nämlich die Meßgröße des Vertagens dieser Industriegesellschaft von allen Bauchgefühlen, irgendwohin zu gehören, lokal, regional, national. Und wenn die Demokratie dieses Gefühl liegen läßt, dann, und insofern sind die Rechtsextremen eine Meßgröße, dann haben die Rechtsextremen keine Chance. Aber zur alternativen Öffentlichkeit: Wenn man das einigermaßen definiert, gehören die nicht. Und daß man sagt: Extrem ist extrem, ist ein Schwindel, auf den man nicht reinfallen soll. Nicht die Mitte ist gut, sondern das Richtige. Auf die Wahrheit kann im politischen Diskurs nicht verzichtet werden.

Gremliza: Ach! Wenn denn darauf nicht verzichtet werden kann, warum dieser Hohn auf die Leute, die in dieser Opposition zur Gesellschaft verharren und nicht bereit sind, das zu einem Begriff wie Industriegesellschaft zurechtzuschwienen, der über die Machtverhältnisse in dieser Gesellschaft nichts mehr aussagt? Die richtige Analyse muß ja nun nicht von einer Art sein, die sich verbreiten läßt. Und es gibt Gründe dafür, daß sie sich nicht verbreiten läßt. Im Medienbereich: Wenn die werbende Wirtschaft, die alle Zeitungen und Zeitschriften des bürgerlichen Lagers subventioniert, aufhörte, dies zu tun, der Stern würde plötzlich am Kiosk zehn Mark mindestens kosten, erschiene er ohne Anzeigen. Dagegen tritt jemand an mit seiner Zeitschrift, der nicht so viel mit Anzeigen einnimmt, wie eine Stern-Seite kostet.

Der kann nur ein trauriges dünnes Blättchen produzieren. Der kann keine Reporter in die Welt schicken usw. Mit diesem traurigen Organ ist das nicht zu machen. Das liegt nicht an mir; wenn ich mich umgucke, ist das allgemein nicht möglich. Ich kann mir also nicht sagen: was mache ich falsch? Ich mache das, was möglich ist, ohne daß ich das, was ich denke daß richtig ist, zu verballhornen, um Publikum anzuziehen.

Nenning: Der Grundirrtum ist doch der: Du glaubst, wenn du den Stern hättest, eine so große Trompete zum Hineinblasen, und wenn du deine Wahrheit hineinbliesest, dann würde das alles anders aussehen. Während alles, was passierte, wenn du in den Stern bliesest, wäre, daß der Stern zugrunde ginge, weil ihn niemand mehr kaufen würde. Das wirkliche Medium, das sich vorwärts bewegt, vorbei und quer durch den Stern, nicht allerdings durchs konkret‚ weil das ein ganz fester Block ist — gelt? —, ist diese Bewegung. Die braucht nicht das buntbedruckte Papier. Die hätte sich nie durchgesetzt, wenn das Mediale ihr Antrieb gewesen wäre. Eine Kronenzeitung für die Alternativen ist unnötig, eine Krone‚ in die homöopathisch alternative Ideen eindringen, weil es die Ideen der Zeit sind, ist nützlich. Was sich wirklich vorwärtsbewegt, das schwimmt ja auch in den Köpfen und im Bauch, ist das Medium.

Das ist der alte marxistische Fehler: Ihr seid verblendet von den Vorzügen und Fortschritten des Kapitalismus. Ganz andere Wunderwerke, heißt es im Kommunistischen Manifest, als gotische Dome und ägyptische Pyramiden. Ihr seid das Gegenteil, aber dadurch immer noch dasselbe. Ein Medium ist für euch das, was die bürgerliche Gesellschaft als Medium auffaßt. Den Alternativen ist ein Medium was ganz anderes: Daß Leute zusammensitzen und reden, daß sie auf die Straße gehen, gemeinsam Dinge tun, das sind Medien.

Gremliza: Mal noch bescheidener als unbedingt nötig: Kommen wir mal zur Wahrheit. Pflicht des Kritikers ist es, die Kritik zu machen. Das heißt: Das, was er mit seinen theoretischen, analytischen Möglichkeiten zu leisten vermag, zu leisten. Und darin auch Konsequenzen zu ziehen. Sich nicht zu übernehmen, nicht zu meinen, er könne damit zugleich eine sich parallel entwickelnde politische Bewegung entfalten, aufbauen. Die politischen Bewegungen entstehen anders, keine, die ich kenne, ist von einer Zeitung gemacht worden.

Konkret ist eine Zeitschrift, die die Aufklärung zu verteidigen hat, die die marxistische Kritik zu leisten hat. Und die anbietet: Ihr könnt sie am Kiosk kaufen, ihr könnt es auch lassen. Ich kann euch nicht dazu zwingen zu lesen. Ich muß es hinlegen können, ohne jemandem nachzulaufen, ohne meine Kritik opportunistischen Überlegungen zu unterwerfen. Ohne einem Financier zu Munde zu reden. Wenn ich das hinkriege, dann ist damit meine Arbeit beendet. Ganz bescheiden.

Nenning: Mhm. Die kapitalistische Arbeitsteilung. Du bist ein Spezialist der Analyse und Kritik, und alles andere sollen die anderen machen. So haben das Marx und Engels nicht gemeint, die waren keine Spezialisten. Vielleicht könnte man sagen: Der Gremliza, wenn er aufhört und als freier Publizist arbeiten würde ...

Lind: Ich danke euch für das Gespräch.

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